Der historische Ortskern von Aichschieß drängt sich am Hang zum Horbental hin ringförmig um die Dorfkirche St. Gereon und Margareta. Der Hanglage geschuldet wird der Kirchhof im Norden von einer mächtigen, üppig bewachsenen Mauer gestützt. Eine Lücke im Grün gibt den Blick auf bemooste Stufen frei, die zu einer mit einem Gitter versperrten Öffnung in der Mauer führen. Eine Metallplatte an der Mauer gibt Aufschluss: Dies war einst das Ortsgefängnis, das Zuchthäusle, auch Jungfernloch genannt, da dort laut der Inschrift „die ledigen Mütter 14 Tage lang nur bei Wasser und Brot eingesperrt wurden“.

Teilweise rigorose Strafen

Das feucht-modrige Gelass in der Mauer – einen Meter lang, 60 Zentimeter breit und 1,20 Meter hoch – war über Generationen hinweg in Vergessenheit geraten. Erst 1955 mit dem Abbruch des 1711 vor der Mauer erbauten Schulhauses kam es wieder zum Vorschein. Nun dient das Verlies als Erinnerungsstück an die keineswegs gute alte Zeit im ländlichen Württemberg des 17. und 18. Jahrhunderts. In den württembergischen Orten wurde ab dem 17. Jahrhundert ein Kirchenkonvent eingeführt, bestehend aus dem Pfarrer, dem Schultheiß und vermögenden Bauern. Er bildete einen Teil der Verwaltungsstruktur, hatte Befugnisse der einfachen Gerichtsbarkeit, überwachte die Kirchenzucht, die Schule, das Verhalten der Bewohner und verhängte bei Fehlverhalten Verwarnungen, Geldstrafen oder Arrest.

In Aichschieß wurde 1644 ein Kirchenkonvent installiert, er bildete bald die maßgebliche Instanz der Kontrolle und Reglementierung der Einwohner, der Überwachung ihres Wohlverhaltens und sittlichen Lebensführung. Wie die in Archiven erhaltenen Protokolle ausweisen, war die soziale Kontrolle umfassend, die Strafen teils rigoros. Gegen die Gebote des Wohlverhaltens war schnell verstoßen. Ein Fluch bei der Arbeit auf dem Acker genügte für eine öffentliche Verwarnung während des Gottesdienstes, Vergnügungen wie der eine Becher über den Durst oder gar Trunkenheit im Wirtshaus wurden mit Geldstrafen belegt. Versäumnisse der religiösen Pflichten, insbesondere des Kirchgangs, wurden streng geahndet. Das Ackern vor dem sonntäglichen Nachmittagsgottesdienst war untersagt. Wurde am Sonntag die Ernte eingebracht, etwa wegen drohenden Unwetters, wurde das Fehlen im Gottesdienst mit Geldstrafen belegt. Pflichtvergessenheit, die mit Vergnügungen wie Kegeln oder Tanzen verbunden war, führte zu noch empfindlicheren Bußen, und manch junger Bursche wurde für einen halben Tag ins Zuchthäusle gesperrt, weil er am Feiertag in der Schenke saß.

Soziale Stellung gab den Ausschlag

Doch keine Regelverletzung, kein Verstoß junger Männer gegen den Anstand überwog unmoralisches Verhalten junger Frauen. Wurde eine ledige Frau schwanger und die Unzucht manifest, folgte die Strafpredigt in der Kirche von der Kanzel herab auf dem Fuß. Dann entschied die soziale Stellung über das weitere Schicksal. War Grundbesitz vorhanden, konnte die Verfehlung durch Heirat aus der Welt geschafft werden.

Mädchen aus armen Familien wurden dagegen zunächst zur Abschreckung in das Zuchthäusle gesteckt, das daher seinen Beinamen „Jungfernloch“ erhielt. Nur wenn der Brotherr die Arbeitskraft benötigte, war ein weiteres Auskommen im Dorf gesichert. Doch oft genug wurden die Frauen mit Schimpf vom Hof und aus dem Dorf gejagt, ähnlich wie jene Mägde, die auf der Suche nach Arbeit aus anderen Dörfern nach Aichschieß gekommen waren. Deren Los findet sich in einem Protokoll von 1788 exemplarisch wieder: „. . . daß der Schultheiß einer, von einem hiesigen ledigen Sohn geschwängerten Dirne, dieser alsbald den hiesigen Ort bei Strafe verboten und sie in ihr Heimwesen nach Baltmannsweiler verwiesen hat.“